Wo Hemingway Enten jagte

Eine Reise ins ursprüngliche Venedig jenseits vom Massentourismus 

Nur eine gute Viertelstunde dauert die Fahrt durch die Lagune vom Flughafen Marco Polo zur Insel Mazzorbo im hoteleigenen Boot. Ganz unscheinbar liegt hier an einer Wasserstraße, der die Insel von ihrer Schwester Mazzorbetto trennt, eine kleine, bunte Häuserflucht in der Abendsonne. An der angrenzenden, historischen Mauer erhebt sich ein Kirchturm – letztes Zeugnis des einstigen Klosters und der Kirche des San Michele Arcangelo – und wirft einen langen Schatten auf das Gelände. Ein Fischerboot tuckert durch das glitzernde Wasser. Kleine Wellen glucksen und schwappen an der Quaimauer. Ansonsten herrscht völlige Stille. Abgesehen von einem diskreten Logo auf einem der Fenster findet man keinen Hinweis, dass hinter diesen Mauern eines der spannendsten Tourismus- und Weinprojekte der Neuzeit entstanden ist: VENISSA.

 

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Wir sind für ein paar Tage in der Serenissima, um das zu entdecken, was die Hausbroschüre als „living the native Venice“ ankündigt – das ursprüngliche Venedig erleben. Und zugegeben: Schon jetzt wähnt man sich Lichtjahre entfernt vom lärmenden Trubel der Touristenströme auf dem Markusplatz. Nach kurzer Registrierung an der Rezeption müssen wir noch einmal zurück aufs Boot, das uns in wenigen Minuten auf die benachbarte Insel Burano bringen soll, wo sich unsere Unterkunft befindet. Durch das Venissa-Projekt ist es zum ersten Mal überhaupt möglich, dass Reisende auf Burano übernachten können. Größere Gebäude, Hotels oder Pensionen sucht man hier ansonsten vergeblich.

 

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Der malerische Ort mit seinen bunten Häusern erweckt Begeisterung pur und erinnert entfernt an La Boca – das historische und ebenso farbenfrohe Hafenviertel von Buenos Aires. Die Kanäle sind teils so eng und mit kleinen Fischerbooten überfüllt, dass es kaum möglich ist, in ihnen zu wenden. Hier, in einer der kleinen Seitengassen unweit vom alten Fischmarkt, liegt unsere Unterkunft: La Casa del Pescatore. Eines von drei über die gesamte Insel verstreuten Stadthäusern, die behutsam und authentisch von Venissa restauriert wurden.

Wie schon auf Mazzorbo herrscht auch hier eine beruhigende Stille, denn die Tagestouristen haben Burano längst verlassen. Die Einwohner sind wieder unter sich. Kein Vaporetto fährt vorbei, kein Wassertaxi durchpflügt die Kanäle, weit und breit ist keine Gondel zu sehen, keine fotografierenden Touristen mit Selfie-Stick, keine Chinesentraube mit buntem Fähnchen an der Spitze und auch keine afrikanischen Taschenverkäufer. Stattdessen sitzen Frauen in schattig-verträumten Innenhöfen, stickend oder schwatzend oder beides. Männer mit wettergegerbten Gesichtern ordnen und flicken Fischnetze oder trinken ihren Aperitivo in den umliegenden Bars, deren Türen um diese Zeit weit geöffnet sind, um die kühle Abendluft hineinzulassen. Ein paar Kinder spielen in den Gassen barfuß Fangen. Im silbrig-dunstigen Gegenlicht der Lagune glitzern am Horizont die Kirchen und Paläste von Venedig. Von hier gelangt man über eine 60 Meter lange Holzbrücke zurück nach Mazzorbo, zum Haupthaus von Venissa.

 

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Zeitreise: Die Inseln, auf denen alles begann

Im 1. Jahrhundert n. Chr. boten die Inseln der Lagune norditalienischen Siedlern, Bauern und Fischern Schutz vor den Invasionen der Goten, Franken und Langobarden. Auf der Flucht vor den Barbaren besiedelten sie die Inseln Torcello, Mazzorbo, Mazzorbetto und Burano, die sich bald zum Zentrum von Politik und Handel entwickelten. Im 10. Jahrhundert hatte Torcello an die 20.000 Einwohner und war größer und reicher als Venedig. Auf Sant’Erasmo, Le Vignole und Mazzorbo wurde Gemüse angebaut und Weinbau betrieben. Doch nach dem 12. Jahrhundert endete diese Blütezeit, und die Inseln sanken in die Bedeutungslosigkeit ab. Die Lagune versumpfte, Malaria-Epidemien drohten. Die Einwohner verließen die Inseln nach Venedig oder Murano und nahmen alles mit, was sich als Baustoff verwerten ließ. Jahrhunderte vergingen.

Ein wenig Glanz kehrte in den 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts zurück, als die Familie Cipriani auf Torcello investierte und die Locanda Cipriani gründete. Ernest Hemingway wohnte über Monate in dem kleinen Gasthof, jagte Enten und schrieb seinen Roman „Über den Fluß und die Wälder“. Winston Churchill, Charlie Chaplin und Maria Callas kamen – und nach ihnen viele Künstler, Adlige, Politiker und Mitglieder des internationalen Jet Set auf der Suche nach einem neuen Versteck. Ansonsten verirrten sich nur wenige Tagestouristen in diesen Teil der Lagune.

 

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Wieder vergingen viele Jahre, bis schließlich 2006 das Anwesen auf Mazzorbo von der Familie Bisol aus dem Dornröschenschlaf geküsst wurde. Gianluca Bisol, der zu den angesehensten Produzenten von Prosecco aus Valdobbiadene gehört, hatte 2002 in den verwilderten Gärten auf Torcello, im Schatten der Basilika Santa Maria Assunta, ein paar verkümmerte Rebstöcke der autochthonen Rebsorte Dorona – und damit auch gleich seine Liebe zu dem kleinen Archipel – entdeckt. Getrieben von der Vision, die „verlorene Traube“ Dorona wieder aufleben zu lassen, arbeitete Gianluca Bisol mit seinem Bruder Desiderio (Chef-Önologe der Familie Bisol) sowie dem angesehenen toskanischen Winzer Roberto Cipresso zusammen, und legte den ummauerten Weinberg auf Mazzorbo an. Nicht einfach bei salzig-schlackigem Grund. Der Traum kostete Zeit und tägliche Arbeit. Und ein Vermögen. Zeitgleich verwandelte die Familie die landwirtschaftlichen Gebäude, Fischerhäuser, Speicher und Keller in ein komfortables Hotel und Restaurant.

 

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Eine anmutige Garteninsel

Direkt neben der Holzbrücke zwischen Burano und Mazzorbo befindet sich in der mittelalterlichen Mauer ein kleines Tor. Von hier gelangt man in einen wildromantischen Obst-, Kräuter und Gemüsegarten, der öffentlich zugänglich ist, jedoch von den meisten Touristen übersehen wird – die Speisekammer von Venissa! Im Lagunengebiet herrschen dank fruchtbarem Lössboden und mildem Meeresklima seit jeher die besten Voraussetzungen zum Gemüseanbau. Zwischen blühenden Artischocken, Bohnenranken und Rosmarin-Sträuchern stehen psychedelisch-bunte Kunstwerke der venezianischen Künstler Bluer, Baroldi und Bisetto, die hier im Rahmen der VENICE TO EXPO installiert wurden. In einem alten und restaurierten Teich, der durch einen Kanal an die Lagune angeschlossen ist, leben Fische und Frösche. Den Großteil des Gartens aber nimmt der Weinberg ein (eher ein Weingarten oder Weinfeld), dessen Spalierreihen jeweils von großen Rosenstöcken begrenzt werden. Überragt wird der Garten von einem wunderschönen Campanile, jenem freistehenden Glockenturm, der uns schon bei der Ankunft aufgefallen war.

Am Ende des Geländes stehen die Hauptgebäude: Hotelrezeption, sechs Gästezimmer, Weinkeller, eine Osteria und das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Restaurant.

 

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„Kein Hotel – eher das Gefühl, angekommen zu sein“

Schnell wird dem Besucher klar: Venissa ist viel mehr als „nur“ ein Weingut, ein Hotel oder ein Restaurant. Vielmehr handelt es sich um einen diskreten Rückzugsort, ein Statement und ein genussvolles Gesamtkonzept, das jedem Besucher die holistische Bedeutung des marketingverseuchten Terminus Nachhaltigkeit veranschaulicht. Hier wurden Arbeitsplätze und Lebensräume geschaffen, die nach ökologischen und ökonomischen, aber auch nach kulturellen und sozialen Kriterien entstanden sind, ohne dabei akademisch oder dogmatisch zu wirken. Allein die sinnliche Erfahrung steht im Vordergrund. Unmissverständlich liegt der Fokus bei Venissa auf Genuss, Essen, Trinken, Rückzug und Entspannung, begleitet von einem natürlichen und freundlichen Service, allerdings ohne den aufgeregten Perfektionsanspruch der Luxushotellerie, die man sonst in Venedig findet. Ein wohliges Gefühl des Aufgehoben-Seins macht sich breit – Entschleunigung pur und auf höchstem Niveau.

 

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Pures Understatement

Bei einem Begrüßungsschluck Prosecco lernen wir Matteo Bisol kennen. Der charismatische und junge General Manager von Venissa ist der Sohn von Gianluca Bisol und seit Beginn des Venissa-Projekts mit dabei. In nur wenigen Jahren hat er sein heutiges Team zusammengestellt und dabei echte Pionierarbeit geleistet.

 

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Während Matteo uns durch das Hotel und die verschiedenen Zimmer führt, erklärt er sein Konzept eines albergo diffuso, was eine Art dezentralisiertes Hotel ist. „Ein Teil der Gesamterfahrung ist für unsere Gäste, dass sie in traditionellen Häusern inmitten von Buranos Gesellschaft wohnen und einen Fischer, Bootsbauer oder eine Merlettaia (Schleiermacherin oder Stickerin für handgefertigte Burano-Spitze) als Nachbarin haben, ohne jedoch dabei auf den Komfort und Service eines Hotels verzichten zu müssen“, erklärt er uns. „Die Zimmer haben wir mit natürlichen Materialen renoviert, gemeinsam mit Designern und Handwerkern der Serenissima: kunstvolle Fliesen und handverlegter Terrazzo, Blattgold und Muranoglas, Parkett und Deckenbalken aus Holz, das von den Ausläufern der nahen Südalpen stammt.“ Während die Gästezimmer im Haupthaus eher ein rustikal-moderner Mix sind, dominiert in den Häusern auf Burano (Casa del Pescatore, Casa della Voga, La Madonnina) visuell ein minimalistisches, fast spartanisches, Understatement. Aber natürlich fehlt es an nichts: angefangen von der kleinen Küchenecke mit Kaffeemaschine, Wasserkocher und Kühlschrank, über Wifi und Klimaanlage bis hin zu den flauschigen Handtüchern und feinen Kosmetika in den Badezimmern.

 

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Nach der Hausführung und einer exklusiven Weinprobe (dazu → hier mehr Infos) begleitet uns Matteo auf die Restaurantterrasse, die sich in der Zwischenzeit vollständig gefüllt hat. Etwas bodenständiger geht es in der benachbarten Osteria zu: Fische – Goldbrasse, Seebarsch, Shrimps, Aal und Steinbutt – wohnen vor der Tür und werden von Buranos Fischern täglich angeliefert. Salate und Gemüse wachsen und gedeihen hinter den alten Mauern. Die Rezepte werden von Generation zu Generation von den Bewohnern Buranos weitergegeben. Und allein die Jahreszeiten sind die Blaupause für die täglich wechselnde Speisekarte.

 

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Die Küche der acht Hände

Venissas Restaurant ist mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet und liegt idyllisch zwischen den Haupthäusern am Kanal und den Rebstöcken. Nirgendwo sonst auf der Welt habe ich bisher das Farm-to-table-Konzept in solcher Perfektion erlebt: Rechts des Tisches die üppigen (Bio) Obst- und Gemüsegärten, links die Küche, wo alles frisch zubereitet wird. Gleich vier junge Küchenchefs experimentieren und zaubern ihre Vision von venezianischer Küche mit Finesse und den allerbesten Zutaten, die selbstredend aus der Umgebung bzw. aus der Lagune stammen. Jeder von ihnen ist für einen Gang alleinverantwortlich. Das Konzept einer „Küche der acht Hände und vier Herzen“ hat sich Matteo ausgedacht. Sabina Joksimovic aus Serbien (26) zaubert die Amuse Bouches und überwiegend vegetarischen Antipasti, Alba Rizzo aus Bergamo (25) bereitet die wunderbar leichten Vorspeisen zu, Michelangelo Doria aus Apulien (46) macht die köstlichen Hauptgerichte und Serena Baiano aus Neapel (25) kreiert atemberaubende Desserts. An diesem Abend erleben wir ein 5-Gang Menü, bei dem der Slow Food Gedanke in Reinform umgesetzt wurde: lauwarme Scampis auf einer Bohnen-Crème mit Rote Beete und Chicoree; Jakobsmuscheln auf Sellerie-Mousseline mit Salzmandeln, Sesam und Blüten; kleine Spaghetti mit Zucchini und Minzsauce, marinierten Anchovis und Nuss-Crumble; Meeräsche und kleine Krabben mit Wildkräutern und Gemüse; und zum Abschluss eine Mousse au Chocolat, die mutig und perfekt gelungen mit einem Algentörtchen und Salzwasser-Sorbet kombiniert wurde.

 

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Sie kennen Venedig? Wirklich?

Der Aufenthalt bei Venissa ist äußerst komfortabel, angenehm und entspannt. Man ist sozusagen in Venedig, ohne in Venedig zu sein. Osteria und Restaurant bieten eine fantastische Küche ohne Kompromisse. Die Gartenanlage ist der perfekte Rückzugsort, um sich für ein paar Stunden – bewaffnet mit einem guten Buch und einem Glas Wein – dem Treiben der Welt zu entziehen. Die kleinen Inseln Burano und Torcello mit ihrer dezentrierten Insellage in der nördlichen Lagune laden zu ausgedehnten Entdeckungstouren ein. Und die Zimmerpreise zwischen 150,- und 200,- Euro pro Nacht sind nicht nur ihr Geld wert, sondern auch ein Bruchteil dessen, was man in den bekannteren Luxushotels bezahlt. Venissa – das bedeutet aber auch Venedig für Fortgeschrittene und für all jene, die einen frischen Blick auf die Lagunenstadt werfen wollen. Wer zuvor noch nie hier war, „O sole mio“-trällernde Gondolieri und prachtvolle Dogenpaläste erwartet, den Trubel und die Menschenmassen braucht und obendrein stilvoll logieren möchte, wird vermutlich im Gritti Palace, Danieli, Bauer, Cipriani & Palazzo Vendramin, Cima Rosa und vor allem im prächtigen Aman Canal Grande eher glücklich. Dann aber sollten Sie zumindest einen Tagesausflug nach Mazzorbo, Burano und Torcello und ein Mittagessen im Venissa einplanen. Es lohnt sich wirklich!

→ Venissa Homepage
→ Venissa Restaurant

Tel: +39 041 52 72 281
info@venissa.it
F.ta S. Caterina, 3 – Mazzorbo
30142 Venezia – Italy
Vaporetto Linie 12 von Fondamenta Nove. Stop: Mazzorbo/Burano

 

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Die goldenen Trauben von Venedig

Die Geschichte von Venissa wäre unvollständig, wenn man sie ohne Hinweis auf den außergewöhnlichen Wein erzählen würde, der hier produziert wird. → Hier finden Sie den Bericht.

 

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WEITERE INFOS

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1 Kommentar
  1. Wow, das ist aber ein spannender Bericht. Wie findet man bloss solche Adressen? Jedenfalls: Venissa ist bei unserer nächsten Reise fest eingeplant! Beste Grüße aus Mallorca, Urs und Lidia

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